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mehr wissen: Nach Orten benannte Krankheiten: Pathogene Weltreise

Bei keinem Treffen mit Freunden dürfen sie fehlen: Fotos vom letzten Urlaub, die man voller Fernweh teilt. Ausbrechen aus dem Alltag, verschiedene Vegetationen und Stadtbilder entdecken – all das ruft positive Emotionen hervor, sowohl beim Teilenden selbst als auch bei denen, die die Urlaubsgeschichten hören. Meist denken wir nicht darüber nach, dass die Orte, die wir bereisen, auch eine dunkle Seite haben können und beispielsweise als Namensgeber für Syndrome, Erkrankungen und Erreger dienen.

Geiselnahme in der Hauptstadt

Stockholm – mit der schwedischen Hauptstadt verbinden die meisten, die schon einmal dort waren: Fähren, die durch das Schärengebiet schippern, Södermalm mit seinen hippen Cafés und kleinen Läden sowie die vielen Inseln, die Museen, grüne Oasen und Vergnügungsparks beherbergen. Eine ganz andere Seite der Stadt offenbart der geschichtliche Hintergrund des sogenannten Stockholm-Syndroms. Nach einem Banküberfall im Jahr 1973 wurden die Opfer während einer Geiselnahme über fünf Tage in einem Tresorraum gefangen gehalten. Das Besondere dabei war, dass es zu einem Rollentausch in der Wahrnehmung der Opfer kam: Die Opfer empfanden starke Sympathien für die Täter und entwickelten gleichzeitig eine größere Angst vor der Polizei als vor ihren Peinigern. Selbst nach dem Verbrechen blieb diese Sympathie bestehen, die Opfer plädierten für eine Strafmilderung der Täter und es gab sogar Gefängnisbesuche. Da es sich um die erste Geiselnahme mit hoher medialer Präsenz handelte, wurde dieses paradoxe Verhalten erstmals zu dieser Zeit in einem größeren Maßstab dokumentiert und somit erkannt.

Das Wichtigste in Kürze

  • Erkrankungen, Erreger und Syndrome sind häufig nach Orten benannt, wenn sie erstmals dort aufgetreten sind und dies in größerem Maße dokumentiert wurde.
  • Beispiele sind das Stockholm-Syndrom, das Marburgvirus, das West-Nil-Fieber, das Norovirus oder das Florenz-Syndrom.
  • Ein Syndrom beschreibt normalerweise einen medizinischen Symptomenkomplex. Sowohl beim Stockholm-Syndrom als auch beim Florenz-Syndrom handelt es sich eher um einen (Verhaltens-)Zustand, der in einer Ausnahmesituation auftritt.

Das Stockholm-Syndrom unter der Lupe

Das Stockholm-Syndrom beschreibt also die Situation einer Geiselnahme oder Entführung, bei der das Opfer beginnt, eine positive Beziehung zum Täter zu entwickeln. In extremen Fällen kann diese Sympathie sogar zu Verliebtheit führen. Zudem zeigt das Opfer Verständnis für die Forderungen des Täters, was häufig dazu führt, dass die Polizei als Feindbild wahrgenommen wird. Die Umstände spielen eine wichtige Rolle für diese Verhaltensanpassung: Die Opfer befinden sich unter extremer psychischer Belastung, isoliert von der Außenwelt, und haben nur Kontakt zu den Tätern. Diese Umstände des Kontrollverlusts und der Wahrnehmungsverzerrung auf der einen Seite und die Einschätzung des eigenen Werts für den Täter als Druckmittel auf der anderen Seite führen zur Entwicklung von Sympathie als Schutzmechanismus, um die Überlebenschancen zu erhöhen.

Obwohl der Name suggeriert, dass es sich um ein medizinisches Syndrom handelt, also um einen Symptomenkomplex, beschreibt das Stockholm-Syndrom lediglich eine Verhaltensanpassung an Ausnahmesituationen, die ohne die Absicht und das Bewusstsein des Opfers abläuft.

Von Schweden nach Peru

Das Gegenstück zum Stockholm-Syndrom stellt das Lima-Syndrom dar, bei dem der Täter Sympathie bis hin zu starker Zuneigung für das Opfer empfindet. Dieses gegenteilige Phänomen wurde nach einer Geiselnahme in Lima im Jahr 1996 benannt, bei der die Geiselnehmer ihre Opfer nach einigen Tagen freiwillig freiließen.

Ein Norwalk-ähnliches Virus

Von psychologischen Verhaltensanpassungen zu Erregern: Tatsächlich ist auch für das Norovirus eine Stadt namensgebend, und zwar im Bundesstaat Ohio, USA. Nach dem Ausbruch in einer Schule in Norwalk im Jahr 1968 wurde der Erreger zunächst als „Norwalk-like-Virus“ bezeichnet. Seit 2002 lautet die offizielle Bezeichnung „Norovirus“. Der bekannte Vertreter aus der Familie der Caliciviren ist weltweit verbreitet und verursacht einen Großteil der nicht bakteriell bedingten Gastroenteritiden bei Kindern (circa 30 %) und Erwachsenen (circa 50 %). Da vor allem Kinder unter fünf und ältere Personen über 70 Jahre häufig erkranken, sind akute Ausbrüche in Gemeinschaftseinrichtungen wie Krankenhäusern und Altenheimen keine Seltenheit.

Hohe Ansteckungsgefahr, kurze Dauer

Die Infektion kann sowohl fäkal-oral durch den Kontakt mit kontaminierten Oberflächen als auch durch die orale Aufnahme virushaltiger Tröpfchen erfolgen. Die Symptome, die etwa zwölf bis 48 Stunden anhalten, umfassen ein ausgeprägtes Krankheitsgefühl, schwallartiges, heftiges Erbrechen, Bauchkrämpfe und starke Diarrhö. Der durch den Flüssigkeitsverlust verursachte Flüssigkeitsmangel sollte durch eine ausreichende Trinkmenge ausgeglichen werden. Hierbei können verdünnte Säfte, Brühe oder Tee mit etwas Zucker und Salz zum Einsatz kommen. Zusätzlich können auch handelsübliche Elektrolytlösungen verwendet werden. Da die Ansteckungsgefahr noch mindestens zwei Tage nach Abklingen der Symptome besteht, sollten betroffene Personen erst nach dieser Zeit wieder an ihren Arbeitsplatz oder in Gemeinschaftseinrichtungen zurückkehren.

Tod auf dem Nil: unwahrscheinlich

Seit einem Interview der Funke Mediengruppe mit dem Virologen Christian Drosten im Mai dieses Jahres ist das West-Nil-Virus wieder in aller Munde. Es tritt bei Zugvögeln aus tropischen Breiten auf und wurde erstmals 2018 in Deutschland bei Vögeln und Pferden registriert. Im Jahr 2019 wurden auch Fälle von durch Mücken übertragenen Infektionen beim Menschen gemeldet. Das West-Nil-Fieber ist eine Viruserkrankung, die meist ohne Symptome verläuft. Der Hauptüberträger ist die deutschlandweit verbreitete Mücke der Gattung Culex, die sich beim Stich an infizierten Vögeln ansteckt. Etwa 20 % der Erkrankten zeigen grippeähnliche Symptome wie Fieber, Schüttelfrost, Müdigkeit und Kopfschmerzen, die in der Regel ohne Komplikationen abklingen. In seltenen Fällen kann es zu hohem Fieber und einer Meningitis kommen, die zu bleibenden neurologischen Schäden oder sogar zum Tod führen kann. Besonders gefährdet sind ältere Menschen und Patienten mit Vorerkrankungen.

Derzeit gibt es weder eine kausale Therapie noch eine Impfung gegen die Erkrankung, obwohl intensiv daran geforscht wird. Angesichts des Auftretens von Krankheitsfällen über mehrere Jahre ist davon auszugehen, dass das Virus auch hierzulande überwintert und die klimatischen Bedingungen im Sommer ausreichend günstig sind. Bisher sind Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Regionen mit einer intensiveren Zirkulation des West-Nil-Virus. Für Personen mit geschwächtem Immunsystem oder ältere Menschen werden die üblichen Maßnahmen zum Schutz vor Mücken empfohlen, wie das Tragen von langer Kleidung, die Verwendung von Moskitonetzen sowie die Anwendung von Repellents und Insektiziden.

Kurzer Zwischenstopp in Marburg

Das Marburgvirus, eng verwandt mit dem Ebolavirus, gehört zur Familie der Filoviren. Um die Ursprünge dieses hochinfektiösen und lebensbedrohlichen RNA-Virus zu erkunden, begeben wir uns zurück ins Jahr 1967 in die Stadt Marburg in Hessen. Damals hatten sich Laborangestellte bei importierten Versuchsaffen mit dem Erreger infiziert. Ähnlich wie beim West-Nil-Fieber handelt es sich hierbei um eine Zoonose, bei der Affen, Flughunde und Fledermäuse in der Regel als Zwischenwirte fungieren. Die Hauptübertragungswege umfassen direkten Mensch-zu-Mensch-Kontakt über Körperflüssigkeiten sowie die Infektion über mit dem Erreger verunreinigte Oberflächen. Immer wieder wurde über Einzelfälle in verschiedenen Teilen Afrikas berichtet, während der Erreger außerhalb des Kontinents nur sehr selten vorkommt. Seit dem namensgebenden Ausbruch 1967 in Marburg wurde das Virus auch in Deutschland nicht mehr nachgewiesen.

Wie erkläre ich es meinem Kunden?

  • „Die Zahl der Stechmücken, die das West-Nil-Fieber übertragen, scheint aktuell zu steigen, richtig. Es besteht allerdings kein Grund zur Sorge, da nach wie vor lediglich Einzelfälle auftreten und die Erkrankung meist symptomlos verläuft.“
  • „Das Marburgfieber ist eine hämorrhagische Viruserkrankung, die über Tiere oder infizierte Personen und Körperflüssigkeiten übertragen wird. Sie ist zwar, wie das Ebolavirus, höchst gefährlich, kommt aber vergleichsweise selten vor.“
  • „Das Norovirus verursacht die meisten nicht bakteriell bedingten Gastroenteritiden. Wichtig ist wie bei allen Erkrankungen mit Durchfall und Erbrechen der Flüssigkeitsausgleich.“

Plötzlicher Start, tödliches Ende

Zunächst äußert sich das Marburgfieber mit typischen Grippesymptomen: hohes Fieber, Muskel-, Kopf- und Halsschmerzen sowie allgemeines Unwohlsein. Etwa ab dem dritten Tag treten Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und starke Bauchschmerzen auf. Während des Ausbruchs von 1967 zeigten die Patienten auch einen unspezifischen, nicht juckenden Hautausschlag. Nach etwa einer Woche entwickeln viele Patienten hämorrhagische Symptome, bei denen spontane Blutungen an verschiedenen Stellen auftreten, die in schweren Fällen zu Organversagen, Schock und letztendlich zum Tod führen können. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verläuft die Erkrankung in 24 bis 88 % der Fälle tödlich. Um der starken Dehydrierung entgegenzuwirken, erhalten die Patienten Infusionen und die Symptome werden konsequent behandelt. Derzeit gibt es 27 Impfstoffkandidaten, die bisher nur im Tierversuch erprobt sind.

Hyperkulturämie

Wer schon einmal in Florenz war, kennt sie: eine überfüllte Innenstadt, gesäumt mit Schlangen von Touristen, die in der Sommerhitze vor den überwältigenden Prachtbauten der Medici auf ihr Einlassen warten. Allen Bauwerken voran geht wohl die Basilika Santa Croce mit ihrer monumentalen Architektur, den zahlreichen Meisterwerken italienischer Maler des 14. Jahrhunderts im Innenraum sowie den Grabmälern von Machiavelli, Michelangelo, Galilei und Rossini. Das kann bei empfindsamen Gemütern zu verwirrenden Gefühlsregungen führen – oder einfacher ausgedrückt: Es kann einen buchstäblich umhauen. So erging es wohl dem Schriftsteller Marie-Henri Beyle, auch bekannt als Stendhal: „Ich befand mich bei dem Gedanken, in Florenz zu sein, und durch die Nähe der großen Männer, deren Gräber ich eben gesehen hatte, in einer Art Ekstase. […] Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“ So schrieb er in seiner Reise in Italien. 

Mit dem Aufkommen des organisierten Tourismus im 19. Jahrhundert berichteten viele Reisende von Verwirrung und Ergriffenheit nach dem Betrachten großer Kunstwerke, was bis hin zu Wahnvorstellungen und Panikattacken reichen konnte. 1979 gab die Ärztin Graziella Magherini diesem Zustand den Namen „Stendhal-Syndrom“ (auch bekannt als „Florenz-Syndrom“), als sich in der Notaufnahme im Stadtzentrum Fälle von desorientierten Urlaubern häuften. Zu viel Pracht in zu kurzer Zeit – die Folge: Reizüberflutung, Schweißausbrüche, Schock. Was kann man da tun? Nun, zum Glück wissen wir, dass ein Aufenthalt außerhalb der Stadt wahre Wunder bewirken kann und der Symptomatik rasch ein Ende setzt. Sich Urlaub vom Urlaub gönnen, auch das will gelernt sein. So sind wir vielleicht nicht unbedingt vor hochinfektiösen Viren, aber zumindest vor dem Stendhal-Syndrom sicher.

Bärbel Scherf

PTA, Fachjournalistin

Nürnberg

autor@ptaheute.de