Myasthenia gravis unter Statin-Therapie
Bei Myasthenia gravis, einer nichterblichen Autoimmunerkrankung, ist die Signalübertragung zwischen Nerv und Muskel an der motorischen Endplatte gestört. Bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten mit Myasthenia gravis lassen sich Auto-Antikörper – also Antikörper, die sich gegen körpereigene Strukturen richten – gegen den nikotinergen Acetylcholinrezeptor nachweisen.
Die Folge: Der Transmitter Acetylcholin kann den elektrischen Impuls der Nervenzelle nicht mehr über seinen Rezeptor auf den Muskel übertragen, der Muskel wird nicht erregt. Klinisch zeigt sich dies durch eine von der Belastung abhängige Muskelschwäche, die über den Tag schlechter wird und sich bei Ruhe bessert.
Bei Myasthenia gravis vor allem Augen betroffen
Betroffen sind häufig die Augen: Den Patienten fallen die Augenlider zu, sie sehen Doppelbilder oder leiden an einer Schwächung der Gesichtsmuskeln, der Schluck- und Atemmuskulatur sowie der Muskulatur von Armen und Beinen.
Eine Myasthenia gravis können Menschen jeglichen Alters entwickeln, dennoch startet sie bei Frauen in der Regel, wenn diese noch unter 40 Jahre alt sind, während Männer erste Symptome meist nach dem 60. Lebensjahr berichten.
Statine können Myasthenia gravis auslösen oder verschlechtern
Manche Arzneimittel werden bereits mit einer Verschlechterung einer Myasthenia gravis in Verbindung gebracht: Fluorchinolone, Makrolide, Aminoglykoside und Betablocker – und nun auch Statine.
So informierte die Britische Arzneimittelbehörde (MHRA = Medical and Healthcare Products Regulator Agency) kürzlich, dass Statine eine bereits bestehende Myasthenia gravis verschlechtern oder auch neu auslösen können.
Zur Erinnerung: Wie wirken Statine?
Statine greifen in den Fettstoffwechsel ein: Sie sind indiziert zur Senkung erhöhter Cholesterinspiegel und um kardiovaskulären Ereignissen (zum Beispiel Herzinfarkt oder Schlaganfall) vorzubeugen – und zwar in der Primärprävention (bevor ein kardiovaskuläres Ereignis bei Menschen mit bestimmten Risikofaktoren erstmalig passiert) und in der Sekundärprävention (um nach einem kardiovaskulären Ereignis weitere zu verhindern).
Die MHRA erreichten zwischen 1995 und 2023 insgesamt zehn Berichte aus dem Vereinigten Königreich (UK), in denen ein Statin als verdächtiges Arzneimittel für eine Nebenwirkung im Zusammenhang mit Myasthenia gravis genannt wurde.
Alle zehn Fälle betrafen Simvastatin, Atorvastatin und Pravastatin, wobei der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) zufolge derzeit nicht bekannt ist, „ob unterschiedliche Statine, eine unterschiedliche Anwendungsdauer oder unterschiedliche Dosierungen Einfluss auf das Risiko haben“.
Symptombeginn innerhalb von drei Monaten
Wie die MHRA berichtet, begannen die Symptome innerhalb weniger Tage bis zu drei Monaten nach Start der Statintherapie. Bei drei Patienten sei eine Myasthenia gravis zuvor bekannt gewesen, bei einem Patienten sei es zu einem erneuten Auftreten der Symptome nach Wiederaufnahme einer Statintherapie gekommen. Die meisten Patienten hätten sich wieder erholt oder seien auf dem Weg der Besserung, berichtet die MHRA.
Statine dennoch sichere Arzneimittel
In Relation zu diesen zehn im UK bekannten Fällen in 28 Jahren muss die Anzahl der Patienten, die ein Statin erhalten, gesehen werden: Das waren im Vereinigten Königreich im Jahr 2022 mehr als 9,5 Millionen Menschen.
Die MHRA betont, dass Statine „akzeptierbar sicher und wirksam“ seien, LDL-Spiegel im Blut zu senken. Viele Menschen, die Statine nähmen, bemerkten keine Nebenwirkungen. Bei denen, die ungewünschte Wirkungen beobachteten, seien diese meist milder Natur.
Die Empfehlung: Bei Menschen mit vorbestehender Myasthenia gravis sollten Ärzte diese bei Anwendung eines Statins darauf hinweisen, zu beobachten, ob sich die Symptome verschlechtern. Sollte es zu einer Verschlimmerung der Myasthenia gravis kommen, sollte das Statin abgesetzt werden (nur in Rücksprache mit dem behandelnden Arzt).
PRAC empfiehlt Risikohinweise in Produktinformationen
Bereits im Januar 2023 hatte der für die Risikobewertung von Arzneimitteln zuständige Ausschuss PRAC bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) empfohlen, dass die Zulassungsinhaber von Statin-haltigen Arzneimitteln die Produktinformationen (Beipackzettel und Fachinformation) zu Atorvastatin, Pravastatin, Lovastatin, Fluvastatin, Simvastatin und Rosuvastatin (Mono- und Kombinationspräparate) ändern. Sie sollten darauf hinweisen, dass Statine eine Myasthenia gravis auslösen oder verschlimmern können.
Der Hinweis: „In wenigen Fällen wurde berichtet, dass Statine eine Myasthenia gravis oder okuläre Myasthenie auslösen oder verschlimmern können.“ Der PRAC empfahl zudem, dass sodann das Statin abgesetzt werden sollte, auch sei „über Rezidive berichtet, wenn das gleiche oder ein anderes Statin (erneut) verabreicht wurde“.
Die Zulassungsinhaber sollten diesen Risikohinweis innerhalb von zwei Monaten in ihre Produktinformationen aufnehmen.