Leseprobe PTAheute 12/2021: Was gehört an Lager?
Die Vorgehensweise bei der Frage, ob ein Artikel überhaupt vorrätig gehalten werden soll, hat große Folgen für die Anzahl der Artikel im Lager. Diese Anzahl wird als Lagerbreite bezeichnet. Davon ist die Lagertiefe zu unterscheiden. Sie gibt die Zahl der Packungen pro Artikel an. Sowohl Lagerbreite als auch Lagertiefe wirken sich auf den Gesamtwert des Lagers aus. Hier soll jedoch nur die Lagerbreite interessieren.
Vorteile durch Lieferfähigkeit
Das wesentliche Argument, einen bestimmten Artikel ins Lager aufzunehmen, ist die Lieferfähigkeit. Wenn der Artikel vorrätig ist, kann ein solcher Kundenwunsch sofort erfüllt und ein ertragbringendes Geschäft gemacht werden. Wenn ein gewünschter Artikel nicht vorrätig ist, entsteht ein schlechter Eindruck beim Kunden. Wenn der Kunde das Produkt anderswo erhält, wird er es beim nächsten Mal wahrscheinlich zuerst dort versuchen. So kann ein Kunde dauerhaft verloren gehen.
Das alles gilt in jedem Handelsunternehmen und in Apotheken sogar noch mehr. Denn von einer ärztlichen Verordnung beziehungsweise den Regeln zu Rabattverträgen darf meistens nicht abgewichen werden. Die Lockerungen der Abgabevorschriften im Zuge der Pandemie werden vermutlich nur eine zeitweilige Ausnahme bleiben. Solange diese Ausnahme gilt, kann eher auf neue Lagerartikel verzichtet werden, falls austauschbare Arzneimittel vorrätig sind.
Doch abgesehen von den zulässigen Austauschmöglichkeiten gibt es bei verordneten Arzneimitteln keine Substitutionsmöglichkeit. Bei verordneten Arzneimitteln kommt noch ein weiteres Argument hinzu: Auf vielen Rezepten werden mehrere Arzneimittel verordnet. Wenn auch nur ein Artikel nicht vorrätig ist, kann der ganze Umsatz mit diesem Rezept verloren gehen. Das spricht zusätzlich dafür, Artikel großzügig ins Lager aufzunehmen.
Etwas anders sieht es in der Selbstmedikation aus. Wenn ein gewünschter Artikel nicht vorhanden ist, kann es möglicherweise gelingen, den Kunden von einem anderen Produkt zu überzeugen, das vielleicht sogar noch besser geeignet ist. Solche Möglichkeiten können in Einzelfällen Gründe sein, auf bestimmte Artikel im Lager zu verzichten. Doch das sind die Ausnahmen, nicht die Regel.
Versorgungsauftrag und Rolle des Großhandels
Für Apotheken kommt als weiteres Argument für ein eher großes Lager der Versorgungsauftrag hinzu. Apotheken haben den gesetzlichen Auftrag, die Bevölkerung mit Arzneimitteln und apothekenpflichtigen Medizinprodukten zu versorgen. Das erfordert einen Vorrat und eine angemessene Auswahl. Es reicht nicht, sich nur auf die schnelle Lieferfähigkeit des Großhandels zu verlassen. Denn erstens sollte der Bedarf im Regelfall sofort erfüllt werden, und zweitens hat auch der Großhandel seine Grenzen.
Die enorme Nachfrage am Beginn der Pandemie hat gezeigt, wie schnell eine Ausnahmesituation entstehen kann. Im Normalfall bietet die schnelle Lieferung durch den Großhandel allerdings eine Möglichkeit, die es in anderen Wirtschaftsbereichen nicht gibt. Dies hat für Apotheken an verschiedenen Standorten unterschiedliche Bedeutung. In einer Innenstadtlage mit vielen Apotheken in der Nähe werden zumindest Kunden, die keine Stammkunden sind, wohl eher eine andere Apotheke ansteuern, als sich auf eine Nachlieferung einzulassen. Zudem sind diese Möglichkeiten durch elektronische Angebote zur Anfrage bei Apotheken derzeit sehr im Fluss. In einer ländlichen Alleinlage hingegen werden die Kunden auch künftig weiterhin eher eine Nachlieferung akzeptieren, weil andere Apotheken dorthin auch bestenfalls einen Botendienst schicken könnten.
Dennoch sollten auch Apotheken in Alleinlagen aus zwei Gründen auf eine gute Lieferfähigkeit achten. Erstens ist Botendienst teuer. Jede Botenlieferung, die durch ein gut sortiertes Lager vermieden wird, ist ein Gewinn für die Apotheke. Zweitens ist jeder sofort erfüllte Kundenwunsch ein Imagegewinn für die Apotheke. Im besten Fall erzählt der Kunde weiter, dass die Apotheke gut lieferfähig ist.
Kapitalbindung und Verfallrisiko
Dies alles spricht also für ein möglichst großes Lager. Doch es gibt auch Gegenargumente. Die beiden wesentlichen Gründe für ein begrenztes Lager sind die Kapitalbindung und der drohende Verfall bei selten gängigen Artikeln. In klassischen betriebswirtschaftlichen Betrachtungen spielt die Finanzierung des Lagers eine große Rolle, also die Kapitalbindung. Dabei geht es um die Finanzierungskosten, die entstehen, weil der Apothekeninhaber das Lager über einen Kredit finanzieren muss oder für eigenes Geld Zinsen erhalten würde, wenn es nicht im Lager gebunden wäre. Doch in Zeiten extrem niedriger Zinsen hat dieses Argument nur noch geringe Bedeutung, besonders in den Apotheken, die keine Kredite benötigen.
Dann bleibt der drohende Verfall als das weitaus wichtigste Argument gegen allzu viele Lagerartikel. Das Risiko, dass eine Packung durch Verfall wertlos wird, sollte so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Ein Teil des Risikos lässt sich durch konsequente Lagerüberwachung vermeiden. Bei Artikeln mit eher geringer Nachfrage sollte schon im Wareneingang auf die Laufzeit geachtet werden. Bei drohendem Verfall kann möglicherweise ein Warenrückkauf des Großhandels mit einem Abschlag den Verlust reduzieren. Doch das wichtigste Mittel bleibt die Orientierung an der bisherigen Nachfrage. Der Artikel sollte so oft nachgefragt worden sein, dass ein Verkauf innerhalb der Laufzeit mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
Auf den Packungswert achten
Die beiden Argumente für ein eher begrenztes Lager, die Kapitalbindung und erst recht der Verfall, ergeben sich aus dem drohenden finanziellen Schaden für die Apotheke. Sie hängen daher unmittelbar vom Preis der jeweiligen Packung ab. In vielen Fällen wird dieser Preis den entscheidenden Unterschied ausmachen. Gegenüber einem drohenden Verlust von einem Euro wiegt die Sorge über einen möglicherweise verärgerten Kunden sehr schwer. Bei einem Artikel für tausend Euro ist ein Lagerwertverlust dagegen unbedingt zu vermeiden. Es ist davon auszugehen, dass auch in anderen Apotheken so entschieden wird und der Artikel vermutlich auch dort nicht vorrätig ist. Darum sollte ein so teurer Artikel nicht auf Lager gehalten werden, wenn die Nachfrage nicht sicher absehbar ist.
Folgen der Preisbildung bei Rx-Arzneimitteln
Diese grundsätzlichen Überlegungen, die auch für andere Handelsunternehmen gelten, werden bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln durch die Arzneimittelpreisverordnung noch erheblich verschärft. Denn die Honorierung der Apotheken besteht bei diesen Produkten aus einem nur dreiprozentigen Zuschlag auf den Einkaufspreis und einem Festzuschlag von 8,35 Euro. Bei der Abgabe an GKV-Patienten wird davon der Kassenabschlag von 1,77 Euro einschließlich Mehrwertsteuer, also 1,49 Euro netto, abgezogen. Dann verbleiben als Festzuschlag 6,86 Euro pro Packung. Das hat folgende Konsequenzen: Wenn von sechs Artikeln mit einem Einkaufspreis von jeweils nur einem Euro pro Packung fünf Packungen verfallen und eine Packung verkauft wird, liefern alle sechs Packungen zusammen noch einen positiven Rohertrag. Die Apotheke wird zwar einen Verlust damit machen, weil die weiteren Kosten nicht gedeckt werden, aber das reine Warengeschäft ist sogar in diesem krassen Fall erfolgreich.
Ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel mit einem Einkaufspreis von 1.000 Euro pro Packung liefert hingegen nur einen Rohertrag von 36,86 Euro pro Packung. Wenn diese Packung verfällt, müsste die Apotheke also 28 solcher Packungen verkaufen, um nur den Verlust durch den Verfall einer Packung auszugleichen. Dabei bleiben alle anderen Kosten, die mit dem Verkauf von 28 Packungen verbunden sind, unbeachtet. Dies zeigt die enormen Unterschiede zwischen niedrig- und hochpreisigen Packungen.
Darum sollten Apotheken verschreibungspflichtige Arzneimittel mit Einkaufspreisen von etwa zwei Euro oder weniger großzügig ins Lager aufnehmen, wenn ein Verkauf innerhalb der Laufzeit realistisch erscheint. Dagegen liegt die Hürde bei Einkaufspreisen von über etwa 50 Euro hoch und bei Hochpreisern für Tausende Euro noch sehr viel höher.
Entscheidung mit IT-Hilfe
Alle Maßstäbe für das Aufnehmen neuer Artikel sollten in gleicher Weise auch für den Umgang mit Lagerartikeln gelten. Wenn ein sehr selten gängiger Artikel doch verkauft wird, sollte gefragt werden, ob dieser wirklich wieder bestellt wird. Nicht die Gewohnheit sollte entscheiden, sondern der Vergleich mit neuen Kandidaten für das Lager.
Im Apothekenalltag wird die Entscheidung über die Aufnahme ins Lager meist von den Programmen für die Warenwirtschaft getroffen, oder sie machen Vorschläge. Die Software, die diese Vorschläge erarbeitet, stützt sich seit der Frühzeit dieser Technik auf die Häufigkeit der Nachfrage nach dem jeweiligen Artikel und auf die Kapitalbindung, die vom Preis des Artikels abhängt. Modernere Software berücksichtigt bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln auch die beschriebenen Effekte aufgrund der unterschiedlichen Handelsspannen bei verschiedenen Preisen. Je nach verwendetem Warenwirtschaftssystem können daher sehr gute Vorschläge erwartet werden. Doch kann auch die beste Software nur gut arbeiten, wenn sie über gute Daten verfügt.
Im Warenwirtschaftssystem wird erfasst, wenn ein bisher nicht vorrätiger Artikel auf Kundenwunsch bestellt wird. Den wunden Punkt bilden aber die Fälle, die nicht zu einer Bestellung geführt haben, weil der Kunde sich nicht auf eine Nachlieferung eingelassen und eine andere Apotheke aufgesucht hat. Auch diese Fälle müssen erfasst werden, damit die Software ermitteln kann, wie oft der Artikel bisher bereits nachgefragt wurde. Nur so lässt sich eine gute Prognose für die Zukunft erstellen. Wenn ein Kunde in einer solchen Situation die Apotheke verlässt, sollte es also heißen: nicht ärgern, sondern dokumentieren.
Steuerung über Lagerdrehzahl
Doch auch diese Daten reichen nicht aus, um eine Entscheidung über die Lagerhaltung umfassend zu begründen. Das liegt an der Fragestellung und hat nichts damit zu tun, ob ein Mensch oder eine Software entscheiden soll. Es fehlt eine Lagerstrategie als Maßstab für die Entscheidung. Üblicherweise wird eine solche Strategie anhand von Kennzahlen der Lagerwirtschaft ausgedrückt. Eine sehr einfache Orientierung wäre, einen maximalen Wert für das gesamte Lager festzulegen. Betriebswirtschaftlich sinnvoller erscheinen Zielwerte für Kennzahlen wie beispielsweise die Lagerumschlagsgeschwindigkeit. Sie gibt an, wie oft das Lager innerhalb eines Jahres umgesetzt wird, und wird daher auch als Drehzahl bezeichnet. Für das ganze Lager oder ein Teilsortiment wird sie berechnet, indem der Jahresumsatz durch den Wert des durchschnittlichen Lagerbestandes (jeweils zu Einstandspreisen) dividiert wird.
Viele Artikel mit geringer Lagerumschlagsgeschwindigkeit senken die durchschnittliche Umschlagsgeschwindigkeit für das Lager beziehungsweise das Teilsortiment. Sehr niedrige Werte sprechen für ein zu großes Lager. Solange eine festzulegende Grenze für die Lagerumschlagsgeschwindigkeit nicht unterschritten wird, könnten neue Artikel eher großzügig aufgenommen werden. Anderenfalls müssten selten gängige Artikel aus dem Lager entfernt werden, bevor neue Artikel aufgenommen werden.
Steuerung über Defektquote
Ein alternativer oder zusätzlicher Maßstab kann die Lieferfähigkeit sein, denn sie ist letztlich das Ziel der Lagerhaltung. Solange die Lieferfähigkeit den Zielwert nicht erreicht, ist das Lager vermutlich zu klein. Dann sollten neue Artikel aufgenommen werden. Allerdings kann die ungünstige Lieferfähigkeit auch auf einer extrem schwankenden Nachfrage beruhen, beispielsweise in Apotheken mit viel Laufkundschaft. Darum sollten auch die anderen Kennzahlen beachtet werden.
Die Lieferfähigkeit wird vorzugsweise anhand der Defektquote gemessen. Dies sind die Kundennachfragen, die nicht sofort erfüllt werden können, dargestellt als prozentualer Anteil an der Gesamtzahl der Kunden. Für die dabei zu zählenden Defekte kursieren mehrere Begriffe wie Nein-Verkäufe oder Nicht-Verkäufe, die an verschiedenen Stellen teilweise unterschiedlich definiert werden. Doch es kommt nicht auf die Worte, sondern auf die Inhalte an. Für eine sinnvolle Aussage über die Lieferfähigkeit des Lagers müssen sowohl erfolgreiche Nachlieferungen als auch die Fälle gezählt werden, bei denen der Kunde in eine andere Apotheke geht. Dies alles sollte möglichst selten vorkommen. Darum sollten alle diese Fälle in der Defektquote erfasst werden.
Eine großzügige Strategie bei der Aufnahme neuer Artikel sollte zu einer sinkenden Defektquote führen. So lässt sich anhand einer Kennzahl der Erfolg erkennen und so lässt sich auch sehen, wann das Lager groß genug ist. Wenn die Zahl der Artikel weiter steigt, die Defektquote aber nicht mehr erkennbar sinkt, sind offenbar so viele selten gängige Artikel im Lager, dass dies kaum noch etwas nutzt. Dann ist die Zeit für den umgekehrten Weg reif und es sollten eher Artikel aus dem Lager entfernt werden, solange die Defektquote nicht erkennbar steigt. Das gilt für die Steuerung durch die Apotheken-IT ebenso wie für individuell getroffene Entscheidungen.
Dauerhafte lohnende Aufgabe
Die Steuerung des Lagers ist also eine dauerhafte Aufgabe. Solange die Apotheke besteht, werden Artikel ins Lager aufgenommen und daraus entfernt, weil sich die Nachfragen der Kunden und das Verordnungsverhalten der Ärzte ändern. Die Mühe, dies zu verfolgen, lohnt sich. Denn ein gut gepflegtes Lager sichert die Leistungsfähigkeit der Apotheke und vermeidet hohe Kosten durch Verfall oder teure Nachlieferungen.
Vorschriften und Sonderfälle
Alle obigen Überlegungen beziehen sich naturgemäß nur auf Fälle, die nach betriebswirtschaftlichen Kriterien und den üblichen Maßstäben für die Arzneimittelversorgung zu entscheiden sind. Daneben sind einige besondere Versorgungsaspekte zu bedenken, bei denen Abweichungen nötig sind. Diese sollten aufgrund des Versorgungsauftrags der Apotheken selbstverständlich sein. Darum sollen sie hier nur kurz erwähnt werden.
Aufgrund der Apothekenbetriebsordnung müssen Apotheken einige Arzneimittel für Notfälle vorrätig halten. Bei diesen Artikeln stellt sich also keine Frage. Außerdem muss ein Wochenbedarf vorrätig gehalten werden, um die Arzneimittelversorgung zu sichern. Dies betrifft die Lagermengen der gängigen Artikel, aber nicht die Frage, ob ein selten nachgefragter Artikel überhaupt vorrätig sein soll.
Daneben ergeben sich weitere Sonderfälle, die von der Apotheken-IT nicht anhand der bisherigen Nachfrage vorauszuberechnen sind. Dies betrifft insbesondere Saisonartikel, bei denen die Nachfrage vorhersehbar schwankt. Dies kann auch bestimmte Produkte betreffen, die vorausschauend mit Blick auf einen Sonn- oder Feiertagsnotdienst eingekauft werden. Hier enden zumeist die Möglichkeiten der Warenwirtschaftssysteme. Doch für den „Normalfall“ kann die Technik eine große Hilfe bei der Entscheidung sein, ob ein Artikel ins Lager gehört oder nicht.
Das Wichtigste in Kürze:
- Die Lagerbreite bezeichnet die Anzahl der verschiedenen Artikel im Lager, ist sie gering, läuft die Apotheke Gefahr, dass der Kunde eine andere Apotheke aufsucht.
- Ist sie zu hoch, ist das Risiko erhöht, dass eine Packung durch Verfall wertlos wird und die Apotheke Verlust macht.
- Die Lagerumschlagsgeschwindigkeit gibt an, wie oft das Lager innerhalb eines Jahres umgesetzt wird.
- Die Lieferfähigkeit wird oft anhand der Defektquote gemessen. Diese wiederum ist der prozentuale Anteil der Kundennachfragen, die nicht sofort erfüllt werden können.