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Leseprobe PTAheute 7/2021: Unter Strom

Bild: Tonklafoto - iStockphoto

Der Mann im weißen Kittel rennt, als gelte es sein Leben. Wo soll er hin, die Hände auf dem Rücken gefesselt, kein Ausweg – er weiß, jetzt ist die Zeit seiner Strafe gekommen, die Strafe für seine Rebellion, seine ewige Aufsässigkeit. Er kann sich sträuben, sich wehren, so viel er will, doch schon packen sie ihn, setzen ihn auf den Stuhl, den er nur allzu gut kennt, jetzt die Elektroden an die Schläfen, er stöhnt und weiß, was kommt. Als der Strom dann durch sein Gehirn schießt, gibt es nichts als aufgeben, sein Körper zuckt, krampft, windet sich und dann – Dunkelheit ...  
Viele kennen diese Szene. Sie stammt aus dem Film „Einer flog über das Kuckucksnest“. Ein künstlich ausgelöster epileptischer Krampfanfall zur Heilung – oder eine folterähnliche Strafmaßnahme für unbotmäßiges Verhalten? Die Antwort ist eindeutig.  

Weg vom schlechten Image 

Leider hat die Elektrokonvulsionstherapie (auch Elektrokrampftherapie, EKT) genau wegen dieser Filmszene ein äußerst schlechtes Image. Das gilt es zügig zu ändern. Was sich da in den Gehirnen der Menschen festgesetzt hat, hat mit der heutigen Realität nicht mehr das Geringste zu tun und muss revidiert werden. Als sehr bedauerlich bezeichnen viele klinisch tätige Psychiater die häufig falsche Darstellung der EKT, die ihren Ruf so stark beschädigt hat, dass sie bis heute vehement gegen Vorurteile ankämpfen müssen. Denn die EKT gilt inzwischen als ein äußerst probates – wenn nicht das probateste – Mittel, therapierefraktäre Depressionen und Schizophrenie zu behandeln. Natürlich unter völlig anderen Voraussetzungen als früher.  
Rund jeder Fünfte erkrankt irgendwann in seinem Leben an einer Depression. Nicht immer lässt sie sich gut, etwa mit Psychopharmaka und/oder Psychotherapie, behandeln. Bei therapierefraktären Depressionen ist die EKT das wirksamste Behandlungsverfahren. Die Ansprechrate ist hoch. Sie liegt bei über 50-Jährigen bei circa 84%, bei Jüngeren bei 74%. Therapie erster Wahl ist die EKT bei depressivem Stupor, wahnhafter Depression, schizoaffektiver Psychose, Major Depression mit hoher Suizidalität und akuter Katatonie. 

Anfänge der Krampftherapie

In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts zeigte sich erstmals, dass Krämpfe in epileptischen Anfällen Menschen aus ihrer Melancholie reißen können. Mit der sogenannten Insulinschocktherapie (auch Insulinkur oder Insulinkomatherapie) versuchte man, psychische Leiden zu behandeln: Durch die Verabreichung von Insulin wurde künstlich eine Unterzuckerung erzeugt, der Patient blieb einige Minuten im Koma und krampfte, eine Injektion von Glucose beendete dieser Zustand. Von etwa 1935 – 1955 galt dies als eine anerkannte und effektive Behandlungsform gegen Depressionen und Schizophrenie – bis ihre Wirkungslosigkeit schlussendlich bewiesen wurde. Die Mortalität lag bei etwa 1%, bei wiederholten Anwendungen waren irreversible geistige Schädigungen keine Seltenheit. 
Der ungarische Arzt Ladislas Meduna führte ab 1933 Tierversuche mit Kampfer durch. Ein Jahr später wurde der Stoff einem schizophrenen Patienten verabreicht, dessen Zustand sich nach dem medikamentös ausgelösten epileptischen Anfall sofort besserte. Aufgrund vieler Nebenwirkungen begann Meduna, das besser steuerbare Cardiazol zu verwenden – mit Erfolg. Doch die Nebenwirkungen waren auch hier nicht tolerierbar. 

Dann kam der Strom ins Spiel

Der römische Neurologe und Psychiater Ugo Cerletti widmete sich unter dem Eindruck der Erfolge Medunas der Frage, ob epileptische Anfälle gefahrlos elektrisch ausgelöst werden könnten. Seine durch tierexperimentelle Versuche gewonnenen Erkenntnisse setzte er 1938 zum ersten Mal an einem Menschen um. Als er die Reaktion seines Patienten sah, stellte er seine Experimente wieder ein – zu brutal, wie er befand. Doch es wurde ein Welterfolg. In den 60er-Jahren gehörte die Elektroschock-Behandlung zur Standard-Therapie in psychiatrischen Kliniken. Der Anblick kann allerdings nicht sehr erhebend gewesen sein: Wie vom Blitz getroffen bäumten sich die Patienten auf, sanken dann in Ohnmacht und wachten mit schweren Muskelschmerzen, 
manchmal sogar Knochenbrüchen wieder auf. Kein Wunder also, dass die Elektrokonvulsions- therapie nicht den besten Ruf genießt. Doch die EKT wirkt – und ist heute nicht mehr mit den Verfahren früherer Zeiten zu vergleichen. Sie beruht darauf, dass in Narkose und unter Muskelentspannung (wichtige Unterschiede zu früher!) durch eine kurze elektrische Reizung des Gehirns ein Krampfanfall ausgelöst wird. 

Der heutige Stand der Forschung

Nach heutiger Kenntnis ist die Wirkung auf neurochemische Veränderungen von Botenstoffen im Gehirn zurückzuführen. Die EKT regt die Neurogenese maximal an, also die Neubildung von Nervenzellen. Diese wiederum nehmen mit neuronalen Netzwerken Kontakt auf. Sie alle haben etwas mit der Depression zu tun, sind miteinander verbunden, kommunizieren, chemisch wie elektrisch: die Schaltkreise im Kopf. Neuroendokrinologische Störungen werden normalisiert. Die gestörte Signalübertragung, vor allem der monoaminergen Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, wird wiederhergestellt. 
Nach Jahrzehnten der Ächtung nimmt die Zahl der behandelten Patienten stetig zu, mittlerweile wird die EKT an fast allen Uni-Kliniken angeboten. Sie bei schweren Fällen nicht einzusetzen, käme aus Sicht vieler klinischer Psychiater unterlassener Hilfeleistung gleich. Die Bundesärtzekammer urteilte in einer Stellungnahme: „Die lege artis durchgeführte EKT ist eines der sichersten Behandlungsverfahren in Narkose überhaupt. Die Risiken der Behandlung sind im Wesentlichen die Risiken der Narkose.“ Und: „Ein Verzicht auf die EKT würde eine ethisch nicht vertretbare Einschränkung des Rechts von häufig suizidal gefährdeten, schwerstkranken Patienten auf bestmögliche Behandlung bedeuten, zumal die EKT von den Patienten retrospektiv als gut bis sehr gut beurteilt wird.“ Doch was heißt nun „lege artis“? 

So wird die EKT durchgeführt

Am Anfang stehen die ausführliche Anamnese und Aufklärung sowie eine umfassende inter­ nistische, neurologische und anästhesiologische Voruntersuchung. Maßgeblich für die Auswahl der Patienten sind die Diagnose, die Schwere der Symptome, die Behandlungsvorgeschichte (z. B. mit Psychopharmaka) sowie die Abwägung zwi­schen Nutzen und Risiken unter Berücksichti­gung anderer Behandlungsoptionen. 
Während der EKT kann es zu einer vorübergehen­ den Erhöhung von Blutdruck und Herzfrequenz kommen. Sie wird nicht durchgeführt, wenn der Patient vor Kurzem (< drei Monate) einen Herz­ oder Hirninfarkt hatte. Gleiches gilt, wenn ein Aortenaneurysma, ein erhöhter Hirndruck oder ein akuter Glaukomanfall vorliegen. Auch schwerste Einschränkungen der Herz­ und Lun­ genfunktion stellen eine absolute Kontraindika­ tion dar. Wer keine der genannten Vorerkrankun­gen hat, darf behandelt werden. 

Patient „verschläft“ das Entscheidende

Eigentlich ist alles ganz unspektakulär. Der Patient wird in Narkose versetzt, er wird von der Behand­lung nichts mitbekommen. Elektroden an langen Kabeln werden auf Brust, Stirn und beide Schläfen geklebt. Über einen Zugang fließt Succhinylcho­lin, ein Muskelrelaxans, in die Vene. Es verhindert die Zuckungen am ganzen Körper, die früher zu Verletzungen führten. Ein Mundschutz verhindert eine Schädigung von Zunge und Zähnen. Atmung und Herz­Kreislauf­Funktion werden überwacht. 
Ist alles in Ordnung, schaltet der Arzt den Strom ein: 180Volt Spannung, 0,9 Ampere Stromstärke. Heute wird der Stromimpuls meist nur durch die rechte Gehirnhälfte geleitet, um das Sprachzen­trum zu schützen, das bei Rechtshändern links liegt. Die konvulsive Wirkung, die während der rund 30 Sekunden dauernden Behandlung auf­ tritt, ist in der Regel nur per EEG zu beobachten. Nicht der elektrische Strom selbst, sondern die Qualität des ausgelösten Krampfanfalls ist ent­ scheidend für die therapeutische Wirkung. Kurze Zeit später erwacht der Patient aus der Narkose. Nur rund zehn Minuten hat sie gedauert. Üblich sind etwa zwölf Behandlungen mit einem Abstand von je zwei bis drei Tagen. 

Von Risiken und Nebenwirkungen

Ein Problem gibt es: die immer noch zu hohen Rückfallquoten. Rund 85 % aller Patienten erkran­ken laut Studien innerhalb eines Jahres erneut, da­ her ist eine Rückfallprophylaxe, also weitere EKTs in deutlich größeren Abständen, unerlässlich. Hinzu kommt, dass etwa ein Drittel der Behandel­ten Gedächtnisstörungen (retro­ und anterogra­ de) entwickeln, die sich aber meist nach Stunden bis Tagen zurückbilden. Eventuelle Wortfindungs­störungen sind vorübergehend. Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Muskelkater, Schwindel und Übelkeit bilden sich spontan zurück oder lassen sich symptomatisch therapieren. Strukturelle Ver­änderungen des Gehirns werden auch durch wie­derholte Anwendungen nicht hervorgerufen. 

Eine Frage des Alters?

Je älter der Patient und je schwerer seine Erkrankung, desto wirkungsvoller ist die EKT. Untersuchungen weisen darauf hin, dass sich die kognitive Leistung – auch bei schwerer Agitation, Aggression und Katatonie infolge Demenz – verbessert und die Depressionssymptomatik abnimmt. Voraussetzung ist die Narkosefähigkeit. Grundsätzlich sei eine EKT bei älteren Menschen meist gut durchführbar und oft sogar wirksamer als bei jüngeren, so das Fazit der Experten.