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Was ist eigentlich Synästhesie?

Frauengesicht bunt angemalt
Synästhetiker haben echte „Superkräfte“: Sie können Töne fühlen, Farben riechen oder Wörter schmecken. Nicht verwunderlich also, dass viele Künstler zu diesem Personenkreis zählen. | Bild: Mike Orlov / AdobeStock

Wenn die elfjährige Lea auf ihrer Geige spielt, dann hört sie nicht nur eine Melodie. Es tanzen gleichzeitig die Noten durchs Zimmer. Was nach kindlichem Quatsch klingen mag, ist ein wissenschaftlich anerkanntes Phänomen: Synästhesie. 

Bei Menschen, die davon betroffen sind, löst ein bestimmter Sinnesreiz noch eine weitere Sinneswahrnehmung aus. In Leas Fall verursachen also Töne zusätzlich visuelle Eindrücke.

Verschiedene Formen der Synästhesie

Bei anderen Synästhetikern lösen Buchstaben oder Zahlen einen bestimmten Farbeindruck aus. So ist zum Beispiel ein „A“, auch wenn es schwarz oder grün gedruckt ist, mit einem roten Farberleben verbunden. Ein „B“ ist vielleicht mit blau verknüpft, eine „3“ löst möglicherweise eine Gelbwahrnehmung aus. 

Dieses Phänomen, bei dem ein Symbol wie Buchstabe oder Zahl mit einer Farbe verbunden wird, ist die verbreitetste Form von Synästhesie. Sie wird als Graphem-Farb-Synästhesie bezeichnet. 

Andere Synästhetiker empfinden Klänge farbig oder verbinden geometrische Figuren jeweils mit einem bestimmten Geschmack. Wieder andere haben bei bestimmten Geräuschen spezifische Geruchswahrnehmungen. 

Es können mehrere Synästhesie-Formen gleichzeitig vorkommen.

Gleichzeitige Aktivierung mehrerer Sinne 

Die gleichzeitige Sinneswahrnehmung drückt der Begriff Synästhesie treffend aus. Er leitet sich ab von den altgriechischen Wörtern „syn“ (zusammen) und „aisthesis“ (Empfinden). Charakteristisch für die Synästhesie ist, dass sie stets unwillkürlich auftritt. Wenn also Lea Geige spielt, tanzen die Töne ganz automatisch, ohne dass sie das will. Doch wie entsteht diese gleichzeitige Aktivierung mehrerer Sinne? 

Man hat herausgefunden, dass bei Synästhetikern eine verstärkte funktionelle Koppelung zwischen Hirnregionen vorliegt. Bei Lea könnten also Seh- und Hörzentrum stärker miteinander verbunden sein als bei anderen Menschen. 

Ob die Synästhesie genetisch bedingt ist, muss noch geklärt werden. Vermutlich wirken Veranlagung und Umwelteinflüsse zusammen.

Zu viele Sinneseindrücke

Wie viele Synästhetiker es gibt, kann nur geschätzt werden. Man geht davon aus, dass bis zu vier Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Der Ausprägungsgrad kann ganz unterschiedlich sein. 

Manchen mag ihre besondere Wahrnehmungsfähigkeit gar nicht bewusst sein. Doch für andere Synästhetiker ist ihre Sonderbegabung eine Belastung. Sie fühlen sich gleichsam einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt. 

So kann für einen Synästhetiker zum Beispiel das eigentlich harmlose Tippgeräusch der Computertastatur mit einem unangenehmen Geruchsempfinden verbunden sein. Vielleicht verursacht auch jeder vorbeifahrende LKW einen braunen Vorhang vor den Augen oder jedes gelesene „und“ einen bitteren Geschmack im Mund.

Synästhesie: Kreativität und gute Gedächtnisleistung

Allerdings haben Synästhetiker nicht nur Nachteile im Leben. Im Gegenteil: Viele von ihnen sind besonders kreativ. Möglicherweise liegt das an ihrer reicheren Erlebniswelt. 

Bezeichnend ist, dass sich unter Künstlern überproportional viele Synästhetiker finden. So sollen beispielsweise Goethe und Beethoven, der Maler Wassily Kandinsky sowie der Gitarrist Jimi Hendrix dazu gezählt haben. 

Und noch etwas zeichnet viele Synästhetiker aus: eine hohe Intelligenz und ein gutes Gedächtnis. Das hat auch Lea schon festgestellt: Die Englischvokabeln kann sie sich oft einfacher und schneller merken als ihre Freundinnen.

Weiterführende Informationen und Kontaktmöglichkeiten bietet die Website der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft e.V. Quellen:
Deutsche Synästhesie-Gesellschaft e.V.;
Universität Bern;
Universität Ulm;
Technische Universität München
 

Synästhesie in Kürze

  • Wahrnehmungsphänomen, bei dem bestimmte Sinneseindrücke Hirnareale aktivieren, die normalerweise nicht von diesen Sinneseindrücken stimuliert werden. Es entsteht dadurch ein zusätzliches Sinneserlebnis. 
  • Sehr heterogenes Phänomen, am verbreitetsten ist die Graphem-Farb-Synästhesie, bei der Buchstaben oder Zahlen Farberleben auslösen. 
  • Gilt nicht als Krankheit, sondern als Sonderbegabung. Zugrunde liegen verstärkte funktionelle Koppelungen zwischen Hirnregionen. 
  • Synästhesie verursacht – mitunter belastendes – verstärktes Sinneserleben, kann mit überdurchschnittlicher Kreativität und Gedächtnisleistung einhergehen.