20 Jahre Apotheker ohne Grenzen in Argentinien
Vor zwei Jahrzehnten entschloss sich Dr. Carina Vetye, ihrem Heimatland Argentinien, das ihrem Vater Schutz vor der Verfolgung in Europa und ihr eine kostenlose, gute Ausbildung gegeben hat, etwas zurückzugeben.
Im Frühjahr 2002 – dem Beginn des argentinischen Winters – traf sie sich erstmals mit Mitarbeitern eines Slum-Gesundheitszentrums in Buenos Aires, um ihre Hilfe und Kompetenz ehrenamtlich anzubieten. Schnell war klar, was am dringendsten benötigt wurde: eine regelmäßige Belieferung mit Arzneimitteln, die den Bewohnern des Elendsviertels entweder eine dauerhafte Therapie oder gar das Überleben (z. B. vorrätiges Insulin für Diabetiker) sichern sollten. Dies sollte natürlich kostenlos sein, denn Geld für Krankheiten hatte hier niemand übrig und jeder krankheitsbedingte Ausfall gefährdete die minimalen Einnahmen der Tagelöhner.
Pharmazeutische Hilfe: Was Slum-Bewohner wirklich brauchen
Was damals bereits galt, ist leider auch heute noch die bittere Realität: „Die Enge im Slum, die Gerüche, die Dunkelheit der oft fensterlosen Behausungen sind bedrückend, aber die Menschen sind so lieb und dankbar“, beschreibt Carina Vetye, die ihre Tätigkeit vor Ort zunächst ehrenamtlich und seit 2011 als hauptamtliche Argentinien-Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen (AoG) ausübt, die Situation. „Ich möchte den Kranken im Slum das geben, was sie brauchen: die richtigen Wirkstoffe in genau den exakten Mengen, zur richtigen Zeit – regelmäßig und kostenlos.“
In ihrer Funktion als AoG-Projektkoordinatorin baute sie geduldig ein Gesundheitszentrum im Slum von Villa Zagala auf: mit fünf Ärztinnen, sieben ehrenamtlichen Apothekern, Community Health Workern und einem stets gefüllten, bedarfsorientierten Medikamentenlager – eine zuverlässige Anlaufstelle für eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung für 30.000 Slum-Bewohner.
Hoher finanzieller Aufwand für karitative Hilfe
Die benötigte Summe an Spenden zusammenzubekommen, um das Projekt fortführen zu können, ist Jahr für Jahr eine große Herausforderung. Das hat Carina Vetye schon viele schlaflose Nächte beschert. Dank vieler treuer Unterstützer hat es bislang jedoch immer geklappt und die Dienstleistungen der Slum-Apotheke konnten über die Jahre immer weiter ausgebaut werden.
Gedankt haben ihr dies nicht nur die Slum-Bewohner, sondern auch diverse Institutionen, die ihre leidenschaftliche Arbeit mit vielen Auszeichnungen honorierten. Zuletzt erhielt das Projekt 2018 den weltweit höchstdotierten Preis für medizinische Entwicklungszusammenarbeit der Else Kröner-Fresenius-Stiftung – und natürlich floss das Preisgeld in Höhe von 100.000 Euro komplett in die Unterstützung der AoG-Slum-Apotheke.
Oft habe ich mich gefragt, ob sich all die Mühen und Entbehrungen gelohnt haben. Mit großer Gewissheit und aus vollem Herzen kann ich diese Frage nur mit einem klaren ‚Ja!‘ beantworten!“
Zahnhygiene als Statusmerkmal?
Mit den Jahren erkannte Carina Vetye ein weiteres, großes Problem der Einwohner der Elendsviertel: Fehlende Zähne durch mangelnde Zahnhygiene verhindern, dass die Menschen es trotz Fleiß und Aufstiegswillen aus dem Slum schafften. Ein gutes, lückenloses Gebiss ist einfach das Zeichen für eine bestimmte, soziale Schicht.
Die Mitarbeiter der Slum-Apotheke setzten umgehend dort an, wo es noch Sinn macht: Sie etablierten Zahnhygienekurse für Eltern, in Kindergärten und Grundschulen. Heute ist Carina Vetye stolz auf die erste Generation junger Slum-Bewohner, die in die Slum-Apotheke kommen und von ihren Erfolgen in der Arbeitswelt berichten, auch dank gesunder Zähne.
So funktioniert pharmazeutische Nothilfe
Neben der Arbeit in der Slum-Apotheke entwickelte Carina Vetye in den vergangenen Jahren ein Standardwerk für die weltweite pharmazeutische Nothilfe. Als Schulungsleiterin von Apotheker ohne Grenzen war ihr aufgefallen, dass westliche Pharmazeuten und Ärzte oft nicht mit den Medikamenten der WHO – zusammengestellt aus der essenziellen, weltweiten Arzneimittelliste, die in der Katastrophenhilfe fast ausschließlich eingesetzt wird – vertraut waren. Dies bewegte Carina Vetye dazu, das „Manual für das Interagency Emergency Health Kit der WHO“ zu verfassen, das sich speziell in der Nothilfe als große Stütze für viele Kollegen erweist. Weitere Handbücher für die Nothilfe folgten.
Carina Vetye arbeitet für eine bessere Welt
„Rückblickend würde ich mich immer wieder dieser Herkules-Aufgabe verschreiben! Die Freude, die Dankbarkeit und die wertschätzende Anerkennung unserer Patienten sind es einfach wert, Tag für Tag unser Bestes zu geben!“ erzählt Carina Vetye mit großer Begeisterung. „Ich wollte immer für eine bessere und fairere Welt arbeiten“, fährt sie fort, und das, obwohl sie die vergangenen zwei Jahre Pandemie nahezu durchgängig im Lockdown im Slum von Buenos Aires verbracht habe.
Auch Jochen Schreeck, der erste Vorsitzende von Apotheker ohne Grenzen, ist voller Dank für ihren 20-jährigen Einsatz für die Menschen im argentinischen AoG-Projekt: „Carinas Einsatz seit Beginn ihrer Arbeit war und ist geprägt von ihrer professionellen und positiven Energie, um den Menschen in den Slums von Buenos Aires mit pharmazeutischer Kompetenz ein Leben in Gesundheit und mit Würde zu ermöglichen. Ohne Carina wäre dieses Projekt heute nicht das, was es ist. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass viele Menschen Carina ihr Leben verdanken. An dieser Stelle sagen auch wir Danke an Carina für ihren unermüdlichen Einsatz.“
Informationen über Apotheker ohne Grenzen
Apotheker ohne Grenzen Deutschland e. V. (AoG) ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in München und gehört zu dem weltweiten Netzwerk von „Pharmaciens sans Frontières“.
Seit der Gründung im Jahr 2000 setzt sich Apotheker ohne Grenzen für eine nachhaltige Verbesserung von Gesundheitsstrukturen von Menschen in Entwicklungsländern ein.
AoG leistet schnelle und flexible pharmazeutische Nothilfe nach Katastrophen und unterstützt in langfristigen Projekten lokale sowie internationale Partner mit der Beschaffung von lebenswichtigen Medikamenten und pharmazeutischem Knowhow.
Mit über 2.000 Mitgliedern engagiert sich der Verein in drei nationalen Projekten in Berlin, Mainz und Frankfurt. Die fünfzehn deutschlandweiten Regionalgruppen organisieren mehrmals im Jahr Infoveranstaltungen, Charityevents und Vorträge.
Apotheker ohne Grenzen schult zudem pharmazeutisches Fachpersonal in den jeweiligen Projektländern und führt im Inland Einsatzkräfteschulungen durch, um deutsche Apotheker und Pharmaziestudenten auf einen ehrenamtlichen Einsatz vorzubereiten.